Auslagerung von Asylverfahren – Chance oder Risiko?

Analyse

Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist ein umstrittenes Konzept, das immer wieder politisch diskutiert wird. Marcus Engler gibt einen Überblick über Ziele, Modelle wie in Australien oder Italien und zentrale Kritikpunkte. Er fasst den aktuellen Stand der Debatte in Deutschland zusammen und gibt Impulse für alternative Handlungsmöglichkeiten. 

Stacheldrahtzaun mit einem Loch

Die Debatte um die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten ist keineswegs neu, sondern wird in Europa und darüber hinaus seit vielen Jahren geführt. Seit den 1980er Jahren gab es immer wieder entsprechende politische Vorstöße von europäischen Regierungen. Bislang sind diese an rechtlichen Hürden und an der fehlenden Kooperationsbereitschaft von Drittstaaten gescheitert. Außerhalb der EU gab es aber Staaten, insbesondere Australien und Israel, die eine solche Politik auch angewandt haben. Dabei kam es zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen und die Programme sind nicht mehr bzw. nur noch teilweise operativ. Trotz dieser Bilanz beziehen sich Politiker*innen und einige Experten immer wieder auf diese Staaten und blenden die erheblichen Probleme systematisch aus. In den letzten Jahren hat sich die Debatte noch einmal intensiviert und immer mehr europäische Regierungen sprechen sich für Drittstaatslösungen aus oder arbeiten an einer Umsetzung. Diese Entwicklung steht im Zusammenhang mit einem generellen restriktiven Trend in der Asylpolitik, bei dem rechtliche und normative Bedenken immer stärker ausgeblendet werden und nahezu alle Mittel im sogenannten Kampf gegen die irreguläre Migration erlaubt scheinen. Im Zentrum der jüngeren Debatte stand zunächst die Kooperation zwischen Großbritannien und Ruanda, die nach dem Regierungswechsel Mitte 2024 jedoch nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile steht insbesondere die Kooperation zwischen Italien und Albanien im Fokus. Auch in Deutschland gibt es inzwischen mehrere politische Parteien, die sich für die systematische Auslagerung von Asylverfahren aussprechen. In diesem Artikel werde ich zunächst einen Überblick über die grundsätzlich mit Drittstaatsverfahren verbundenen Ziele geben. Anschließend gehe ich kurz auf die Entwicklungen und Modelle in Australien, Großbritannien und Italien ein. Danach diskutiere ich Kritikpunkte und rekonstruiere die aktuelle Diskussion in Deutschland. Abschließend gebe ich einen Ausblick und verweise auf Handlungsalternativen.

Ziele und Begründungen der Befürworter*innen

Obwohl es bezüglich der konkreten Modelle bedeutsame Unterschiede gibt, führen Befürworter*innen der Auslagerung von Asylverfahren eine Reihe von ähnlichen Zielen und Begründungen an. Ein zentrales Argument lautet, dass weniger Menschen sich auf die gefährlichen Routen in EU-Staaten begeben und schlimmstenfalls sterben würden, wenn Asylverfahren in Drittstaaten durchgeführt würden. Zugleich wäre ein solches Asylsystem gerechter bzw. würde sich auf die am stärksten Schutzbedürftigen konzentrieren. Denn im aktuellen System werden viele Menschen vom Schutz in Europa ausgeschlossen, da sie die gefährlichen und für viele unerschwinglichen, irregulären Reisen nicht auf sich nehmen können oder wollen. Im Zusammenhang mit Drittstaatsverfahren könnten sie dann über humanitäre Aufnahmeprogramme ausgewählt und aufgenommen werden. Eine weitere Begründung lautet, dass irreguläre Migration aufhören bzw. stark zurückgehen würden und somit auch Schleusern die Geschäftsgrundlage entzogen würde. Dies würde insgesamt zu einer höheren Akzeptanz für das Asylrecht in den Bevölkerungen führen. Andernfalls würde sich die Erosion des Asylrechts weiter fortsetzen, was u.a. an der systematischen Missachtung von Asyl- und Menschenrechten bereits sichtbar ist.

Dies sind in der Tat wichtige Ziele. Jedoch gibt es zum einen Zweifel daran, dass diese Ziele mit der Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten tatsächlich und am besten erreicht werden können. Zum anderen ist eine Zielverschiebung bei wichtigen Akteuren zu beobachten. Während es ursprünglich darum ging, ähnlich viele Flüchtlinge aufzunehmen, nur sicherer und gerechter und mit mehr Akzeptanz, geht es inzwischen v.a. darum, dass keine oder sehr viel weniger Flüchtlinge auf dem eigenen Staatsgebiet aufgenommen werden sollen. Immer mehr Politiker*innen sprechen sich dafür aus, dass Schutzbedürftige auch dauerhaft in den Drittstaaten, in denen Asylverfahren durchgeführt werden, bleiben sollen.

Zu betonen ist dabei, dass es bereits heute möglich ist, einen Schutzstatus außerhalb Deutschlands oder der EU zu prüfen und Menschen über humanitäre Aufnahmeprogramme und Resettlementverfahren aufzunehmen. Allein: Das geschieht bisher zusätzlich zu individuellen Asylverfahren – und nicht an deren Stelle. Anders als das rechtlich bindende Asyl sind diese Aufnahmeprogramme für Staaten vollkommen unverbindlich. Sie können frei über den Umfang und die Kriterien der Aufnahme entscheiden und bestehende Programme jederzeit beenden. Erklärtes Ziel von Drittstaatsverfahren ist es, dass ein großer Teil der Schutzbedürftigen dann keinen Rechtsanspruch auf Schutz mehr hat, sondern nur noch die Chance im Rahmen begrenzter Kontingente Aufnahme in EU-Staaten zu finden. Trotz zahlreicher Bekenntnisse zu legalen Zugangswegen haben Staaten Aufnahmeprogramme nur sehr begrenzt ausgebaut.

Debatten und Erfahrungen ausgewählter Staaten

In der aktuellen Diskussion werden sehr unterschiedliche Modelle besprochen. Eine systematische Diskussion würde hier den Rahmen sprengen (für einen Überblick). Besonders häufig werden Erfahrungen Australiens, sowie die aufgegebenen Pläne Großbritanniens und die beginnende Kooperation zwischen Italien und Albanien diskutiert. Daher werden diese drei Fälle kurz vorgestellt. 

Australien/Pazifische Inseln

Australien ist ein wichtiger Referenzpunkt, da es das einzige Land ist, in dem es eine langjährige Praxis von Drittstaatsverfahren gibt. Das sogenannte Offshore-Verfahren wurde erstmals 2001 von einer konservativen Koalitionsregierung eingeführt. Bekannt als „pazifische Lösung“ wurden die Asylanträge zu dieser Zeit entweder vom UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) oder von australischen Einwanderungsbeamten auf den Inselstaaten Nauru und Papua-Neuguinea bearbeitet. Personen, die als schutzbedürftig eingestuft wurden, wurden anschließend in Australien oder in andere Staaten umgesiedelt. Diese Politik wurde 2008 von der neuen Labor-Regierung abgeschafft, u.a. wegen der hohen Kosten.

2012 führte die Labor-Regierung das Offshore-Verfahren wieder ein. Die Modalitäten der Offshoring Politik wurden in den darauffolgenden Jahren immer wieder angepasst. Kern der Politik war (seit Mitte 2013), dass auch anerkannte Flüchtlinge nicht mehr nach Australien einreisen durften. Sie sollen sich entweder auf den Inselstaaten integrieren oder in Drittstaaten (v.a. USA und Neuseeland) umgesiedelt werden. Beide Optionen funktionierten jedoch nur teilweise. Asylsuchende und anerkannte Flüchtlinge blieben daher jahrelang in den Camps. Die Politik Australiens wurde in mehreren Gerichtsurteilen und zahlreichen Berichten aufgrund ihrer Grausamkeit und der Verletzung von Menschenrechten verurteilt. Zunehmende Gesundheitsprobleme der Lagerinsassen zwangen Australien schließlich dazu, ab 2018 fast alle Personen medizinisch nach Australien zu evakuieren (temporär oder dauerhaft).

Von Ende 2014 bis 2023 stellte Australien die Überstellung von Neuankömmlingen auf die Inselstaaten ein und richtete seine Grenzschutzpolitik neu aus. Ankommende Boote werden systematisch von der australischen Marine abgefangen und auf dem Meer wieder zurückgeschickt. Das alles geschieht im Rahmen einer geheimen Militäroperation, über die in der Öffentlichkeit nur wenig bekannt ist. Die Zusammenarbeit mit Papua-Neuguinea endete im Jahr 2021, nach einem Gerichtsurteil. Auch in Nauru gab es Kritik und Mitte 2023 gab es keine Flüchtlinge mehr auf der Insel. Zugleich schlossen Nauru und Australien ein neues Abkommen, mit dem eine „dauerhafte regionale Bearbeitungsmöglichkeit“ geschaffen wurde. Seit Herbst 2023 wurde zum ersten Mal wieder eine kleine Zahl von Personen nach Nauru gebracht.

Großbritannien/Ruanda

Im April 2022 kündigte die britische Regierung an, dass jeder Asylsuchende, der „illegal“ eingereist ist, nach Ruanda geschickt werden könne. Dort sollte dann das Asylverfahren nach ruandischem Recht durchgeführt werden. Eine Rückkehr nach Großbritannien war auch für anerkannte Flüchtlinge nicht vorgesehen. Die Regierung wollte damit erreichen, dass weniger Personen aus Frankreich über den Ärmelkanal per Boot nach Großbritannien kommen. Grundlage war ein Vertrag mit Ruanda, das u.a. eine hohe finanzielle Summe erhalten sollte. Die britische Regierung hatte bereits Vorbereitungen getroffen. So wurden Asylverfahren ausgesetzt und Asylsuchende inhaftiert. Mehrere Gerichtsurteile verhinderten jedoch, dass das Rwanda scheme operativ wurde. Ein erster für Juni 2022 geplanter Flug wurde kurz vor dem Start abgesagt, da Anwälte erfolgreich gegen die Überstellung ihrer Mandant*innen geklagt hatten. Im November 2023 stufte der britische Supreme Court die Pläne insgesamt als rechtswidrig ein. Er sah das Risiko, dass Personen von Ruanda aus in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden könnten und ihnen dort Verfolgung drohen könnte. Auch sei die Menschenrechtsbilanz der ruandischen Regierung zweifelhaft. Daraufhin erließ die britische Regierung ein Gesetz, mit dem sie Ruanda zu einem sicheren Staat erklärte und Gerichte anordnete, wichtige menschenrechtliche Regelungen außer Acht zu lassen. Die Regierung schloss auch ein neues Abkommen mit dem afrikanischen Staat. Darin verpflichtete sich Ruanda, niemanden in sein bzw. ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Nach dem Regierungswechsel im Juli 2024 hat die Labour-Regierung die Pläne aufgegeben, u.a. weil sie diese für zu kostspielig und wenig wirkungsvoll hielt. Niemand wurde nach Ruanda geschickt. Mehr als 100.000 Personen, deren Asylverfahren unter der Tory-Regierung eingefroren worden waren, konnten nun einen Antrag in Großbritannien stellen. Dennoch sind sehr hohe Kosten entstanden (ca. 860 Mio. Euro bis Mitte 2024).

Italien/Albanien

Im November 2023 haben die Regierungen Italiens und Albaniens eine Vereinbarung getroffen, der zufolge einige Asylverfahren in Albanien durchgeführt werden. Italien übernimmt die Kosten und führt die Verfahren nach italienischem und europäischem Recht durch. Italienische Beamte sind für die Verfahren und den Betrieb der beiden Lager in Albanien verantwortlich. Die maximale Kapazität der gefängnisartigen Einrichtungen beträgt 3.000 Personen. Betroffen sind im Mittelmeer (in internationalen Gewässern) von der italienischen Marine aufgegriffene Personen. Personen, die von Nichtregierungsorganisationen gerettet werden, oder die es von selbst bis nach Italien schaffen, werden nicht nach Albanien gebracht. Zudem sollen die Verfahren nur für bestimmte Personen aus als sicher geltenden Herkunftsländern in Albanien durchgeführt werden. Vulnerable Personen, wie z.B. Frauen, Kinder oder Kranke sind ebenso ausgeschlossen. Es handelt sich um beschleunigte Grenzverfahren, die nach maximal 28 Tagen abgeschlossen werden sollen. Im Falle einer positiven Asylentscheidung sollen die Personen nach Italien übersiedeln dürfen. Im Falle einer Ablehnung soll eine Rückkehr bzw. Abschiebung direkt aus Albanien erfolgen können. Sollte dies innerhalb von maximal 18 Monaten nicht gelingen, übernimmt Italien auch diese Personen. 

Die italienischen Behörden haben bisher eine geringe Zahl von Personen in die Lager gebracht. Daraufhin entschieden italienische Gerichte, dass die Verfahren nur dann in Albanien durchgeführt werden dürften, wenn die Personen aus Staaten kommen, die komplett (und nicht nur teilweise) als sicher gelten können. Da dies nach Auffassung der Gerichte nicht der Fall war, verlangten sie eine Rückkehr der Personen nach Italien, was auch teilweise geschah. Die Meloni-Regierung ist der Auffassung, dass es in der Kompetenz der Regierung und nicht von Gerichten liegt, darüber zu entscheiden, welche Staaten als sicher gelten können. Sie will an der Politik festhalten.

Kritik und Zweifel an Einhaltung von Recht

In der Beschreibung der drei Fälle werden zentrale Probleme von Drittstaatsverfahren bereits deutlich. Befürworter*innen behaupten immer wieder, dass Drittstaatsmodelle im Einklang mit europäischem und internationalem Recht umgesetzt werden können. Rechtsexpert*innen haben zwar betont, dass dies grundsätzlich vorstellbar sei. Gerichte, Rechtwissenschaftler*innen und Menschenrechtsorganisationen haben jedoch immer wieder Bedenken daran geäußert, dass die Auslagerung von Asylverfahren in den konkret diskutierten Fallkonstellationen mit bestehendem Recht vereinbar ist. Dabei gab es ähnliche Kritikpunkte. Erstens wurde die Befürchtung geäußert, dass Drittstaatsverfahren zu einer Verletzung des Refoulement-Verbots führen könnten. Nach diesem zentralen Prinzip des Flüchtlingsrechts dürfen Schutzsuchende nicht in Staaten zurückgeführt werden, in denen ihnen Verfolgung droht oder in denen ihr Leben in Gefahr ist. Staaten, in denen Asylverfahren für andere Staaten durchgeführt werden, müssten dies garantieren. Da es sich in der Praxis häufig um autokratisch regierte Staaten handelt, gibt es hieran Zweifel.

Zweifel wurden ebenso darüber vorgebracht, ob schutzbedürftige Personen in den diskutierten Drittstaaten auch tatsächlich Schutz und ausreichend gute Aufnahmebedingungen erhalten würden. Dies betrifft insbesondere besonders verletzliche Personen – also etwa Minderjährige, Familien, Folteropfer, Opfer von Menschenhandel oder psychisch Kranke. Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, ob Personen für längere Zeiten inhaftiert werden, wie etwa im Falle des australischen Modells, wenn sie in ein Land gebracht werden, in das sie nie wollten.

Bedenken wurden ebenso erhoben, ob Verfahrensrechte eingehalten werden. Wie kann der Zugang zu anwaltlicher Beratung und Unterstützung und der Zugang zu Gerichten garantiert werden, wenn Asylverfahren in Drittstaaten stattfinden? Und wie kann die Einhaltung von menschenrechtlichen Garantien im Drittstaat effektiv überwacht werden?

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Verletzung des sogenannten Verbindungskriteriums. Das bedeutet, dass schutzsuchende Personen nicht einfach in Staaten gebracht werden dürfen, zu denen sie keinerlei Verbindung haben (was auch einen kurzen Transit ausschließt). Dieses Kriterium ist völkerrechtlich nicht verbindlich, entspricht aber den Beschlüssen des UNHCR Exekutivkomitees. Im Europarecht ist das Verbindungskriterium jedoch festgeschrieben. Viele europäische Regierungen und auch Parteien wie CDU/CSU in Deutschland wollen das Prinzip abschaffen.

Darüber hinaus kann an der Glaubwürdigkeit einiger der beteiligten Akteure gezweifelt werden, insbesondere wenn es um die Wahrung des Flüchtlingsschutzes und des Einhaltens von Menschenrechten geht. Regierungen, wie z.B. in Ruanda, profitieren finanziell und symbolisch von einer Zusammenarbeit mit westlichen Staaten und haben ein starkes Eigeninteresse an der Kooperation, außerhalb des Flüchtlingsschutzes. Bei Regierungen westlicher Staaten, die Drittstaatsverfahren durchführen oder dies planen, ist eine starke Tendenz zu einem selektiven Umgang mit Fakten zu erkennen sowie eine Missachtung von bestehenden Rechtsnormen oder der Diffamierung von Gerichten.

Hohe Kosten, geringe Steuerungseffekte und Glaubwürdigkeitsverlust

Expert*innen haben zudem immer wieder starke Kritik an Drittstaatsverfahren geäußert, die über rechtliche Fragen hinausgehen. Dies betrifft zum einen die sehr hohen Kosten, die mit solchen Verfahren verbunden sind. Zum anderen gibt es keine Evidenz dafür, dass Asylverfahren in anderen Staaten dazu führen, dass keine oder kaum noch Personen versuchen würden, irregulär in EU-Staaten zu gelangen. Grundsätzlich stützt sich die These des Steuerungseffekts auf zwei behauptete Wirkungsmechanismen, die einzeln oder kombiniert gedacht werden können. Der erste Mechanismus basiert auf reiner Abschreckung. Wenn aufgegriffene Personen sichtbar in einen Drittstaat gebracht werden, würde es andere davon abhalten, sich überhaupt erst auf den Weg zu machen. Der zweite Mechanismus bezieht sich auf einen Umlenkungseffekt. Wenn im Gegenzug für die Auslagerung reguläre Wege geschaffen würden, würden sich weniger Personen auf irreguläre Route begeben und stattdessen den regulären Weg in Betracht ziehen.

Für den ersten Mechanismus wird oft auf Australien verwiesen. Im australischen Fall kann der Rückgang der Ankunftszahlen jedoch nicht überwiegend durch die Verfahren und das Festhalten auf den Inselstaaten erklärt werden, sondern v.a. mit der militärischen Seeblockade, durch die ankommenden Boote auf hoher See gestoppt und zur Umkehr gezwungen werden. Eine derartige Praxis wäre mit der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht vereinbar.

Was den Umlenkungseffekt angeht, so ist dieser grundsätzlich plausibel und auch aus normativen Gründen zu begrüßen. Ein angenommener Steuerungseffekt hängt stark davon ab, wie Drittstaatsprogramme im Detail konzipiert sind. Er würde sich v.a. dann ergeben, wenn es für Personen, die aus Mangel an Alternativen bisher auf irregulären Routen nach Europa gelangen (oder es versuchen), legale Wege geben würde. Diese müssten ausreichend im Umfang sein, tatsächlich zugänglich und über einen längeren Zeitraum zuverlässig funktionieren, damit sie als Alternative wahrgenommen werden. In den bisher ernsthaft diskutierten Modellen findet sich ein solcher Systemwechsel gegenüber dem Status quo jedoch nicht. Legale Aufnahmewege für Schutzsuchende oder Schutzberechtigte werden von Regierungen nur in sehr begrenztem Umfang angeboten. Mehrere Staaten haben ihre Resettlement-Plätze reduziert oder planen dies derzeit. Auch in Deutschland steht das System humanitärer Aufnahmeprogramme stark unter Druck und es ist zu befürchten, dass derartige Programme unter einer neuen Bundesregierung eingeschränkt werden. Eine Skalierung von Drittstaatsprogrammen scheitert neben den hohen Kosten auch an der fehlenden Bereitschaft von Drittstaaten solche Programme durchzuführen, geschweige denn in größerem Umfang.

Ein weiteres Problem von Drittstaatsverfahren, so wie sie derzeit konzipiert sind, liegt in einem weiteren Glaubwürdigkeitsverlust der EU bezüglich einer fairen Verantwortungsteilung im Flüchtlingsschutz und des Respekts von Menschenrechten.

Debatte in Deutschland

Auch in Deutschland gibt es inzwischen zahlreiche Akteure, die sich für eine Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten aussprechen. Bereits der Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung beinhaltete eine Passage zur Prüfung von Asylverfahren außerhalb der EU. Dabei war jedoch die Rede von „Ausnahmefällen“. Inzwischen hat sich die politische Debatte deutlich verschoben: So fordert etwa die CDU in ihrem neuen Grundsatzprogramm, Asylverfahren ausschließlich in Drittstaaten durchzuführen und erfolgreichen Antragstellern auch dort Schutz zu gewähren. Die deutsche Ministerpräsidentenkonferenz vergab im November 2023 einen Prüfauftrag an das Bundesinnenministerium. Dieses soll prüfen, wie Drittstaatsverfahren in Einklang mit europäischem und internationalem Recht ermöglicht werden können. Das Ministerium führte hierzu einen umfangreichen Anhörungsprozess mit Expert*innen u.a. aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und internationalen Organisationen durch. Auf Grundlage der Anhörungen und zahlreichen Stellungnahmen veröffentlichte das Ministerium im Juni 2024 einen ersten Sachstandsbericht. Die überwiegende Mehrheit der angehörten Expert*innen hat sich sehr kritisch geäußert. Zwar gab es weitgehenden Konsens, dass Asylverfahren in Drittstaaten grundsätzlich rechtlich möglich sein könnten, vorausgesetzt es gibt Drittstaaten, die die hohen rechtlichen Voraussetzungen erfüllen, woran es große Zweifel gibt. Jedoch wurden zahlreiche praktische Hürden hervorgehoben und auf sehr hohe Kosten verwiesen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) kündigte an, die Prüfung ergebnisoffen fortzusetzen. Zugleich drückte sie Zweifel an der Wirksamkeit solcher Verfahren aus.

Die deutlichen Einwände der überwiegenden Zahl der Expert*innen wurden von konservativen und rechten politischen Kräfte komplett ignoriert. Sie fordern eine schnelle Umsetzung von Drittstaatsverfahren und versuchen die Bundesregierung unter Druck zu setzen. Eine Delegation um den CDU-Politiker Jens Spahn reiste im Mai 2024 nach Ruanda und traf sich auch mit dem Präsidenten des Landes. Dieser erklärt sich zu einer Zusammenarbeit mit Deutschland bereit. Deutschland solle die von Großbritannien ungenutzten Kapazitäten nutzen. Auch Vertreter*innen anderer Parteien – insbesondere von FDP, AfD, BSW – sprachen sich für eine Kooperation mit Ruanda oder anderen Staaten aus.

Die Ministerpräsident*innen haben die Bundesregierung gebeten bis zum nächsten gemeinsamen Treffen im Dezember 2024 konkrete Modelle zur Durchführung von Asylverfahren in Transit- und Drittstaaten zu erarbeiten. Wegen des vorzeitigen Endes der Ampel-Koalition und des anstehenden Wahlkampfs ist es ungewiss, wie genau der weitere Zeitplan aussieht. Angesichts einer Mehrheit von Parteien, die für einen restriktiven Kurs in der Asylpolitik stehen und die auch Drittstaatsverfahren unterstützen, ist es sehr wahrscheinlich, dass das Thema auf der politischen Agenda bleibt.

Ausblick und alternative Handlungsmöglichkeiten

Sowohl in Deutschland als auch in anderen EU-Staaten werden Regierungen weiter an der Umsetzung von Drittstaatsverfahren arbeiten. Auf EU-Ebene gibt es eine Mehrheit von Staaten, die das Verbindungsprinzip im EU-Recht kippen wollen und es wahrscheinlich auch tun werden. Auch die EU-Kommission und das neue Europäische Parlament scheinen mehrheitlich die weitere Entwicklung von Drittstaatsansätzen zu unterstützen. Wie weit Regierungen bereit sind zu gehen, um die oben beschriebenen rechtlichen Vorgaben und Bedenken zu umgehen, lässt sich nicht abschließend bewerten. Es ist aber deutlich, dass die politische Entschlossenheit größer und die vorhandenen Skrupel kleiner sind als in der Vergangenheit. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass Drittstaatsverfahren in naher Zukunft in großem Umfang zur Anwendung kommen oder sogar, wie es einige Akteure wünschen (bzw. befürchten), dass sie das territoriale Asylrecht komplett ersetzen. Neben weiterhin bestehenden rechtlichen Barrieren, die von Gerichten geltend gemacht werden, sprechen die fehlende Bereitschaft von Drittstaaten, hohe Kosten und die Fähigkeit von Schutzsuchenden, sich derartigen Verfahren zu entziehen, dagegen. Es ist aber davon auszugehen, dass einige Regierungen derartige Programme auch dann aufrechterhalten werden, wenn sie nicht dazu führen, dass weniger Personen von selbst nach Europa einreisen, um einen Asylantrag zu stellen. Denn Drittstaatsverfahren sind wie andere Maßnahmen auch – etwa Grenzkontrollen oder Bezahlkarten – geeignet als symbolisch-performative Politik, Kontrollnarrative zu inszenieren. Zudem ist der Verweis auf legale Einreisemöglichkeiten – auch wenn diese nicht oder kaum funktionieren – eine etablierte Strategie, um mehr Restriktionen für selbstständig einreisende Schutzsuchende zu fordern oder umzusetzen.

Die hier formulierten Bedenken und Zweifel an der Durchführung von Asylverfahren in Drittstaaten sollten jedoch nicht so gedeutet werden, dass der Status quo als ideales System angesehen wird. Im Gegenteil: Das bestehende Asyl- und Flüchtlingsregime ist hochgradig dysfunktional und sollte dringend reformiert werden. Es gibt zahlreiche Verbesserungsmöglichkeiten, die hier nicht im Detail diskutiert werden können. Im Wesentlichen gibt es drei Handlungsdimensionen, die von vielen Expert*innen immer wieder hervorgehoben werden. 

Erstens sollten Deutschland und die EU stärker dabei helfen, die regionalen Schutzsysteme in Staaten massiv zu verbessern, in denen viele Flüchtlinge leben. Erstaufnahmestaaten brauchen deutlich mehr Geld und Mittel sowie längerfristige Planungssicherheit um die Aufnahme, Versorgung und ggfs. Integration von Flüchtlingen leisten zu können; daher müssen dringend auch die internationalen Hilfsorganisationen vor Ort zuverlässiger unterstützt werden. Dies muss unter Einbezug der lokalen Bevölkerung und in Verknüpfung mit einer längerfristigen Entwicklungsperspektive geschehen.

Zweitens sollten legale Wege für Schutzsuchende und andere Migrant*innen nach Deutschland und in weitere Staaten deutlich ausgebaut werden. Dies betrifft zum einen schutzsuchende Personen und anerkannte Flüchtlinge. Dabei können Verfahren, in denen der Schutzstatus in Drittstaaten (Nachbarstaaten oder Transitstaaten) geprüft wird, zum Einsatz kommen, etwa bei Resettlement oder humanitären Aufnahmeprogrammen. Auch humanitäre Visa oder Botschaftsasyl sind erprobte Optionen. Entscheidend ist jedoch, dass derartige Einreisemöglichkeiten zusätzlich zum individuellen Asylverfahren konzipiert bleiben. Darüber hinaus sollten auch andere legale Wege für Schutzsuchende und andere Migrant*innen weiter ausgebaut werden, etwa zu Arbeitszwecken, zum Familiennachzug oder zu Ausbildungszwecken.

Und drittens sollten Investitionen in das Asylsystem und die Aufnahme- und Integrationsinfrastruktur in Deutschland und anderen EU-Staaten getätigt werden, damit das System belastbarer, effizienter und nachhaltiger wird. Die Idee, dass Schutzgewährung und Integration nur noch außerhalb von Europa stattfinden werden, ist eine Illusion. Die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland und Europa bleibt eine Daueraufgabe, auf die sich Gesellschaften besser vorbereiten sollten.